Stephanie Eggimann, 25 Jahre alt
«Ein wenig Respekt, Menschlichkeit, Rücksichtnahme – mehr braucht es gar nicht»
Der Ort heisst Biembach und liegt in einer Talsohle im Emmental. Nebel hängt über den Hügeln, die Sonne drückt zögerlich durch. Es ist früher Morgen, knapp über null Grad, aber Stephanie Eggimann, stellvertretende Leiterin einer Denner-Filiale in Münchenbuchsee, will das Gespräch auf der Terrasse führen. Sie raucht, trinkt Kaffee und erzählt von dem Tag, als sie sich derart schlimme Selbstverletzungen zufügte, dass sie zu ihrer Psychologin sagte: «Entweder ihr liefert mich jetzt ein, oder ihr findet sonst einen guten Ort für mich.» Die Psychologin fand die Mühle.
Schön ist es bei Ihnen.
Nur leider nicht mehr lange. Wir ziehen um, aus gesundheitlichen Gründen. Mein Vater schafft mit seinem Rücken die Treppen nicht mehr.
Sie sind in Biembach aufgewachsen?
Zwanzig Jahre lebten wir hier. Zuerst oben im Dorf, da war die Mutter schon krank. Nach ihrem Tod baute der Vater dann das Haus. Ich werde Biembach vermissen, dabei ziehen wir nur nach Lützelflüh. Ich bin Emmentalerin, hier kriegt man mich nicht weg.
Was gefällt Ihnen am Emmental?
Die Ruhe. Ich bin kein Grossstadtmensch, das Leben dort ist mir zu schnell. Als ich in der Mühle arbeitete, wohnte ich in einer WG in der Nähe vom Westside. Hochhäuser, Betonblöcke, jeden Tag Sirenen – das fägt nicht. Im Emmental ist das anders, mein Partner wohnt in Steinen direkt unter dem Chuderhüsi. Diesen Ausblick von der Schrattenfluh bis zum Stockhorn, den gibt es nur hier. Ich könnte mir zum Leben keinen schöneren Ort als das Emmental vorstellen.
Sie arbeiten in Münchenbuchsee.
Den langen Arbeitsweg nehme ich in Kauf, wegen der Chefin. Zuerst konnte ich es überhaupt nicht mit ihr, wir hatten harte Jahre. Heute halte ich sie für die Beste. Sie ist fair, sie ist streng, sie verlangt viel. Bis zu ihrer Pensionierung in zwei Jahren bleibe ich bei ihr.
So gut hatten Sie es nicht immer. Möchten Sie davon erzählen?
Die Probleme fingen in der Lehre an, bei einem Detailhändler in Burgdorf. Alles kam zusammen. Ich hatte Selbstwertprobleme, mein Freund verliess mich, ich kämpfte mit der Erinnerung an den Tod meiner Mutter. Das Schlimmste aber war, dass man mich im Betrieb mobbte. Ich war so überfordert, sehnte mich nach Liebe. Mit meinem Vater war es ebenfalls nicht leicht, er litt ja auch noch immer. Ich verletzte mich wiederholt selbst. Ich kam mit einbandagierten Armen zur Arbeit, aber niemand fragte, was los sei. Man lästerte über mich, drohte mir mit der Entlassung. Ich klemmte mir absichtlich die Hand in der Kühltür ein, nur damit ich nach Hause konnte. Ich wollte nicht mehr, konnte nicht mehr. Irgendwann sass ich quasi in meinem eigenen Blut, keine grosse Lache, aber trotzdem. Da bat ich meine Psychologin, mir einen Ausweg aufzuzeigen.
Da erfuhren Sie von der Mühle?
Genau. Ich war achtzehn, als ich in ein WG-Zimmer von SORA für junge Erwachsene zog und in der Mühle zu arbeiten begann. Es hatte eine Betreuerin dort, die war so gut. Ich weiss noch, wie ich manchmal dachte: Das ist die beste Zeit meines Lebens.
Können Sie das erklären?
Ich machte die Büez gern. Und vor allem wurde ich verstanden. Wenn ich es nötig hatte, gab man mir auch mal eine Woche Auszeit. In der Lehre waren psychische Probleme tabuisiert worden, in der Mühle redete man offen drüber. Zuvor hatte ich mich wie ein Nichts gefühlt, jetzt war ich jemand. Dieses Gefühl, nicht nur eine Nummer im System zu sein, gab mir wahnsinnig viel. Wissen Sie, was traurig ist?
Nein.
Dass es gar nicht so viel braucht, um jemandem wie mir auf die Beine zu helfen. Ein wenig Respekt, Menschlichkeit, Rücksichtnahme – mehr braucht es gar nicht. Aber so ist die normale Arbeitswelt nicht.
Roman Zaugg, der zwei Jahre nach Ihnen in der Mühle war, schildert das ganz ähnlich.
Wissen Sie, ich arbeite gern, ich mache meine Büez gut. In der Mühle wird man dafür belohnt. Wenn man jeden Tag pünktlich zur Arbeit kommt, nie verschläft, darf man mit der Zeit Auslieferungen machen. Das war ein Ansporn für mich, ich riss mir wirklich den Arsch auf. Ich erinnere mich an die erste Tour mit Dänu, wir waren den ganzen Tag unterwegs, gingen was essen. In der Mühle erzählten wir dann, wir hätten uns verfahren. Wir hatten es gut, redeten viel. Das hat meinen Ego einen Kick gegeben: Dass man mir etwas zutraut. Ich überlegte sogar, Müllerin zu lernen. Aber es ist das alte Handwerk, das mir gefällt, das mit Geschichte und Tradition. Die grossen Mühlen heute sind elektronisch. Das war bei uns anders, du kommst rein, siehst das Mehl überall und hörst, wie die Maschine läuft – das hat wahnsinnig gefägt. Perfekt ist auch die Lage. Du kannst dich an den Bach setzen, wenn du Zeit brauchst, kannst rüber zur Brücke, um runterzufahren und eine zu rauchen.
Wie lange waren Sie in der Mühle?
Ein Jahr. Ich war beschäftigt, hing nicht immer meinen Gedanken nach. Die Mühle gab mir Halt, gab meinem Leben einen Sinn.
Wie geht es Ihnen heute?
Ich brauche keine Medikamente mehr, bin wieder gern unter Menschen, ich arbeite. Ich habe einen Freund, irgendwann wollen wir Kinder. Und ich gehe wieder in die Musik.
Was für ein Instrument spielen Sie?
Klarinette. Mein Freund ist in der freiwilligen Feuerwehr und im Hornusserverein, das sind zeitintensive Hobbys. Ich merkte, dass ich am Abend auch etwas brauche, ich will ja nicht einfach daheim herumsitzen und auf ihn warten. Ich spiele in der Musikgesellschaft Schüpbach, wir haben alles: Saxophon, Basssaxophon, Querflöte, Trompete, Cornet. Früher war ich Heavy-Metal-Fan – aber so ein Bläserensemble fägt schon sehr.
Interview: Christof Gertsch